JANZ WEIT DRAUßEN
Am Rummelsburger See,
damals noch jwd (janz weit draußen),
fand 1837 die erste baptistische Taufe in Berlin statt.
Der Rummelsburger See (auch Rummelsburger Bucht genannt) ist
eine Spreebucht in Berlin mit den angrenzenden Bezirken
Friedrichshain-Kreuzberg (Halbinsel Stralau) und Lichtenberg (Rummelsburg).
Ab 1669 befand sich am Ufer des
damaligen Stralauer Sees eine Ziegelei. Daraus entwickelte sich im 18.
Jahrhundert eine Meierei, die als Charlottenhof bezeichnet wurde.
Der Weinhändler Johann Jakob
Rummel übernahm um 1720 das Anwesen und eröffnete eine Gastwirtschaft, die er Rummelsburg nannte. Dieser Name
übertrug sich auf die ganze Umgegend und den benachbarten See. 1801 hatte
Rummelsburg fünf Häuser und elf Einwohner, 1856 erst acht Häuser und 67
Einwohner.
In den frühen Morgenstunden des 13. Mai 1837, dem Sonnabend
vor Pfingsten, ließen sich Gottfried Wilhelm Lehmann[1],
der Eisenwarenhändler Carl Friedrich
Nickel, der Lithograph Franke, Johann Gustav Ebel, der bei Nickel im Dienst
stand, Frau Eleonore Lehmann und Frau Franke im Rummelsburger See durch Johann
Gerhard Oncken taufen.[i]
Sie müssen schon mitten in der Nacht aufgebrochen sein.
Von Lehmanns Wohnung An der Stralauer Brücke 5 bis zum
Stralauer Tor waren es etwa 2,5 Kilometer. Das Stralauer Tor (auch Mühlentor
genannt) befand sich am südöstlichen Ende der Brücke am Oberbaum (an der
heutigen Kreuzung Stralauer Allee und Warschauer Straße). Von dort führte eine
auf einem Damm angelegte Allee bis zum Fischerdorf Stralau.
In Berlin gab es seit 1678 auf Anordnung des Großen
Kurfürsten Friedrich Wilhelm[2]
eine Straßenbeleuchtung. An jedem dritten Haus musste abends eine brennende
Laterne aufgehängt werden. Nach der Brennordnung von 1682 mussten die Laternen
allerdings nur im Winter und nicht bei vollem Mondschein betrieben werden. Die
ersten Gaslaternen gab es in Berlin ab 1826.[ii]
Ganz sicher aber noch nicht auf der Straße nach Stralau. So wird in dieser
Nacht nur der zunehmende Mond und vielleicht eine mitgeführte Laterne den Weg
der Gruppe beleuchtet haben.
Bis zur ihrem Abriss, zwischen 1867 und 1870, umschloss die
Zoll- und Akzisemauer mit ihren 18 Zolltoren das Berliner Stadtgebiet. Die
Mauer hatte keine militärische Bedeutung, sondern diente zur Erhebung der
Akzise genannten Steuer, zur Kontrolle des Personen- und Warenverkehrs und zur
Verhinderung der Fahnenflucht.[iii]
»An den Toren mussten die wachhabenden
Offiziere oder Unteroffiziere bei allen aus- und einpassierenden Reisenden sich
genau nach ihrem Namen, Stand, Ort, wo sie herkommen, Absicht des Hierbleibens
oder Durchreisens, Wohnung, Geschäft und vermutliche Dauer ihres hiesigen
Aufenthalts erkundigen.«[iv]
Von neun Uhr abends bis sieben Uhr morgens blieben die Stadttore
geschlossen. Die Schärfe der Personenkontrollen schwankte aber offenbar von
Zeitraum zu Zeitraum erheblich. Für das Jahr 1834 nennt Zedlitz‘s Neustes Conversations-Handbuch für Berlin und Potsdam nur
noch neun Tore, die überhaupt bewacht wurden. Das Stralauer Tor zählte
allerdings dazu.[v] Das
nächtliche Verschließen der Tore hörte erst ab 1850 ganz auf. Dennoch muss die
kleine Schar das Tor unbehelligt passiert haben.
»Frühmorgens
um drei Uhr bewegte sich die kleine Gruppe heilsbegieriger Seelen zum Stralauer
Tor hinaus nach dem Rummelsburger See«. So beschreibt es
1912 Joseph Lehmann[3]
in seinem Buch Geschichte der deutschen
Baptisten.[vi]
Sonnenaufgang war an diesem Tag um 04:09 Uhr.
Der Rummelsburger See ist vom Stralauer Tor noch circa 1,6
Kilometer entfernt. Die gesamte Strecke betrug also etwa vier Kilometer.
Trotz der frühen Morgenstunde und dem abgelegenen Ort können
die Ereignisse am Rummelsburger See nicht unbemerkt geblieben sein. In der
Ausgabe des Morgenblatt für gebildete
Leser vom 29. August 1837 berichtet der Korrespondent: »auch über einige hier gewesene Baptistenprediger aus dem Orient, die
wirklich im Rummelsburger See bei Stralau einige namhafte Männer aus der Stadt
zum zweiten Male getauft haben sollen. Denn nach ihrer Ansicht ist nicht allein
nur die Wiedertaufe in erwachsenen Jahren, sondern nur eine, die in einem
wirklichen Flusse oder Flußsee vorgenommen wird, von echter Wirksamkeit. Wer
den Rummelsburger See kennt, trefflich zu Wasserpartie und zum Baden, …dem
werde die Begebenheit so wunderbar vorkommen, daß das Wunder an das unglaublich
Lächerliche streift.«[vii]
Ursprünglich war die Taufe bereits zu einem früheren
Zeitpunkt geplant. »Im April 1837 rief er (Lehmann)
Oncken nach Berlin, damit die
Taufe an ihm vollzogen werde.«[viii]
Doch Oncken erkrankte an dem Abend vor der auf den folgenden Morgen
festgesetzten Taufe ernstlich und musste mehrere Wochen das Bett hüten.
In der Geschichte
der deutschen Baptisten von Joseph Lehmann wird sogar berichtet,
dass ȟber
zehn Wochen verflossen…bis endlich völlige Genesung eintrat«[ix],
was auf einen viel früheren Termin für die geplante Taufe, nämlich Anfang März,
hinweisen würde.
Wenn Oncken am Abend vor der Taufe erkrankte, kann er sich
zu diesem Zeitpunkt nicht in Hamburg aufgehalten haben. Denn eine Reise nach
Berlin dauerte selbst mit der Schnellpost, der »Business Class«
der damaligen Zeit, mit 30 Pfund Freigepäck und zum Preis von etwa 15 Talern,
immerhin 36 Stunden. Sie ging im Jahr 1836 von Hamburg Montag, Dienstag,
Donnerstag und Sonnabend um acht Uhr abends ab und war in Berlin am Mittwoch,
Freitag, Sonnabend und Montag um acht Uhr morgens. Die normale »Fahrpost«
brauchte 51 Stunden und verkehrte Dienstag, Donnerstag, Freitag um vier Uhr
nachmittags und Sonnabend zehn Uhr morgens ab Hamburg und war am Donnerstag,
Sonnabend, Sontag um sieben Uhr abends beziehungsweise Montag zwölf Uhr abends
in Berlin und kostete 8 Taler.[x]
Ein Arbeiter verdiente übrigens zu der Zeit etwa ein bis zwei Taler in
der Woche.[xi]
Auch die Wetterverhältnisse im Frühjahr 1837 waren sehr ungünstig.
Es muss sich um einen extrem kalten und schneereichen April gehandelt haben. So
soll am 10. April im Berliner Raum noch eine Schneehöhe von 60 Zentimetern
gemessen worden sein. Die Berlinischen
Nachrichten vom 15. April 1837 berichten, dass die am 8. April
abgehende Schnellpost nach Berlin wegen »riesiger Schneemassen« wieder
nach Hamburg zurückkehren musste.[xii]
Es lässt sich also nicht genau sagen, ab wann Onken in Berlin war. Seine
Rückreise nach Hamburg erfolgte jedenfalls am Mittwoch, dem 17. Mai. Am selben
Tag wurde er von der Polizei gesucht, weil man ihn aus Berlin ausweisen wollte.
Die zweite Taufe findet am 28. Oktober 1838 statt.
Der Seidenwirker Metzkow, der Bediente Reiche und der Webergeselle
Riedel werden von Oncken im Rummelsburger See getauft. Ein knappes Jahr später,
am 28. September 1839, taufte Oncken zum dritten Mal an derselben Stelle.[xiii]
Den im 19. Jahrhundert üblichen Mitglied-Schein der Gemeinde getaufter Christen zierte
eine Lithographie von G. W. Lehmann – Die
Taufe im Rummelsburger See.[4]
Lehmann gehörte nicht nur zu den Gründern der deutschen
Baptisten, sondern war auch Kupferstecher und Lithograph. Er besuchte ab 1819
die Berliner Akademie der Künste und war dort Schüler von Johann Gottfried
Schadow.[5]
Im Neuen allgemeinen
Künstler-Lexicon von 1839 findet man über Lehmann folgende
Anmerkung: »Wir haben von seiner Hand
schöne Blätter in Linienmanier und im Stahlstiche, und in der Lithographie
leistete er nicht minder Vorzügliches. Dann ist Lehmann auch als Zeichner zu
nennen. Zu vielen seiner Blätter hat er die Zeichnung selbst gefertiget, sowohl
zu historischen, als zu Portraiten in schwarzer Kreide und in Sepia.«[xiv]
Wahrscheinlich stammt die Vorlage für diese Lithographie ebenfalls
von Lehmann. Ganz sicher handelt es sich nicht um die Darstellung der ersten
Taufe am 13. Mai 1837, bei der lediglich neun Personen (die sechs Täuflinge,
Oncken und zwei Zeugen) anwesend waren. Auf dem Bild sind jedoch 23 Personen zu
erkennen.
Ob es sich dabei tatsächlich um den Rummelsburger See
handelt, kann man aus dem Dargestellten nicht mit Sicherheit ableiten. Bei den
Bergen im Hintergrund könnte es sich um die etwa 12 Kilometer entfernten
Müggelberge handeln. In derselben Richtung befanden sich in etwa vier Kilometern
Entfernung auch die Krähenberge in Karlshorst. Dabei handelte es sich um Binnendünen,
welche allerdings nur vier Meter über dem Straßenniveau lagen. Um 1900 wurden
sie für den Bau des Bahndammes am Bahnhof Karlshorst abgetragen.[xv]
Wenn die Taufe am nördlichen Ufer stattgefunden hätte,
müsste auf dem Bild die, das südliche Ufer des Sees bildende, Halbinsel Stralau
mit ihrer Dorfkirche zu erkennen sein.
Dass die Taufe am südlichen Ufer erfolgte, ist sehr unwahrscheinlich.
Das Fischerdorf Stralow,[6]
welches sich hier befindet, hatte zu dieser Zeit bereits über 100 Einwohner und
galt mit der ersten »Gesellschaft zur Förderung des sportlichen Segelns« in den
1830er Jahren als Geburtsstätte des Segelsports in Deutschland.
Von April bis zum Spätsommer 1837 (also genau zum Zeitpunkt
der ersten Taufe) lebte hier übrigens Karl Marx[7],
der an der Berliner Universität ab 1836 Jura studierte. Im April 1837 bezog er
ein Zimmer bei dem Fischer und Gastwirt Gottlieb Köhler in der Dorfstraße 11 (heute
Alt-Stralau 25). Er war damals 19 Jahre alt und hatte sich die Unterkunft im
damaligen ländlichen Umland von Berlin auf ärztliches Anraten gesucht, weil
seine Gesundheit angeschlagen war. Zu den Vorlesungen im Stadtzentrum war Marx
übrigens zu Fuß unterwegs. Im Spätsommer des Jahres 1837 zog er aus Stralau
wieder in das Zentrum von Berlin.
Es kann sich auf dem Bild also eigentlich nur um einen Blick
in Richtung Osten handeln, da es sonst weder in nördlicher oder südlicher
Richtung größere Erhebungen gab. Der Ort der Taufe befand sich also höchst
wahrscheinlich am westlichen Ufer des Sees.
Etwas merkwürdig erscheint der Standort der Mühle im Hintergrund.
Normalerweise befindet sich eine Windmühle, denn um eine solche handelt es sich
offensichtlich, auf einem Berg und nicht unterhalb. Detaillierte Pläne, die das
Gebiet um den Rummelsburger See einschließen, gibt es aus der Zeit um 1837 nicht.
Auch in der Statistisch-topographische
Beschreibung der gesammten Mark Brandenburg[xvi]
aus dem Jahr 1805 lässt sich die Existenz einer Windmühle in diesem Bereich
nicht nachweisen. In späteren Stadtplänen ist jedoch etwa an dieser Stelle eine
Schneidemühle verzeichnet.
Handelt es sich bei dem Hintergrund also vielleicht einfach
nur um eine Ausschmückung der Szene?
Korrekt ist auf der Lithographie Die Taufe im Rummelsburger See die Position der
Mühlenflügel.
Mit der sogenannten »Mühlensprache« konnte der Müller mit der Stellung der Flügel im ruhenden Zustand
verschiedene Aussagen machen. Die X-Stellung bedeutet Feierabend.
[1] Gottfried Wilhelm Lehmann (* 23. Oktober
1799 in Hamburg;
† 21. Februar 1882 in Berlin).
[2]
Friedrich Wilhelm von Brandenburg (*16.
Februar 1620 in Cölln; † 9. Mai
1688 in Potsdam) aus dem Haus Hohenzollern war seit 1640 Markgraf von
Brandenburg. Nach der Schlacht von Fehrbellin am 18. Juni/28. Juni 1675 erhielt
er den Beinamen der Große Kurfürst.
[3]
Joseph Lehmann, (* 28. November 1832
in Berlin; † 11. Januar 1907 in Hamburg) war ein deutscher baptistischer
Theologe, Schriftsteller und Lehrer am Predigerseminar der deutschen Baptisten.
Joseph Lehmann war ein Sohn Gottfried Wilhelm Lehmanns.
[4] Siehe Abbildung auf Seite 213.
[5]
Albert Dietrich Schadow (* 2. Mai
1797, in Potsdam; † 5. September 1869, in Berlin), war ein deutscher Baumeister
und Architekt und vor allem tätig für die Architekten Karl Friedrich Schinkel
und Friedrich August Stüler.
[6] Seit 1893 gilt
der amtliche Name des Ortes Stralau.
[7]
Karl Marx (* 5. Mai 1818 in Trier; †
14. März 1883 in London) war ein deutscher Philosoph, Ökonom,
Gesellschaftstheoretiker, politischer Journalist, Protagonist der
Arbeiterbewegung sowie Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft und der Religion.
[8]
Am Rummelsburger See wurden Szenen des
1973 uraufgeführten Films Die Legende von
Paul und Paula gedreht. Zur Erinnerung an den Film wurde ein Abschnitt des
Uferwegs 1998 offiziell als Paul-und-Paula-Ufer benannt.
[i] Hans Luckey: Lehmann und die Entstehung einer deutschen
Freikirche. Verlag von J.G. Oncken Nachf., Kassel 1939 S. 66-71
[ii] Die Geschichte der Berliner Gasbeleuchtung:
www.berlinerverkehrsseiten.de/gaslaternen/history/history.html
[iii] Stefan Hirtz: Grenzen und Stadttore von Berlin.
Diplom.De, 2000, ISBN:
978-3838624433, S. 28
[iv] Helmut Zschocke: Die Berliner Akzisemauer:
die
vorletzte Mauer der Stadt.
Berlin Story Verlag, 2007,
ISBN 9783929829761, S.59
[v] Leopold Freiherr
von Zedlitz: Neustes
Conversations-Hanbuch für Berlin und Potsdam. Unveränderter Nachbruck der
Ausgabe Berlin 1834, arni-Verlag, Berlin 1979, ISBN: 3-7605-8541-8, S. 804-805
[vi] Joseph
Lehmann: Geschichte der deutschen
Baptisten.
J.G. Oncken Nachf., Kassel 1912, S. 68
[vii] Morgenblatt für gebildete Leser. 206. Ausgabe
vom 29. August 1837,
Cotta'sche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart
und Tübingen
[viii] Luckey:
Lehmann. S. 66-71
[ix] Joseph
Lehmann: Geschichte. S. 68
Rembrandt Verlag, Berlin 1836, S. 16
[xi] Otto Büsch: Das 19. Jahrhundert und Große Themen der
Geschichte Preußens. Verlag Walter de Gruyter, Reprint Berlin 1992.
ISBN 978-3-11-083957-9 S. 154
[xii] Paul
Schlaak: Die Katastrophen-Schneefälle
in Norddeutschland vor 140 Jahren im April 1837.
Instituts für Meteorologie der Freien Universität Berlin 1977
[xiii] Luckey:
Lehmann. S. 66-71
[xiv] Georg
Kaspar Nagler: Neues
allgemeines Künstler-Lexicon , Band 7, Verlag E.A. Fleischmann,
München 1839, S. 402
[xv] Bürgerverein
Berlin-Karlshorst e.V. : Die Geschichte
von Karlshorst.
www.karlshorst-buergerverein.de/
[xvi] Friedrich
Wilhelm August Bratring: Statistisch-topographische
Beschreibung der gesammten Mark
Brandenburg :
Für Statistiker, Geschäftsmänner, bes. für
Kameralisten .
Verlag:
Maurer Berlin 1805